Mittwoch, 29. September 2010

Angela Merkel, Langzeitarbeitslosigkeit und Staatshaushalte

Meinen täglichen volkswirtschaftlichen Quark lieferte mir die SZ vom 29. September ganz zuverlässig online in den PDF-Leser. Natürlich ist nicht aller Quark, den ich unten zitiere, von SZ-Redakteuren selbst verzapft, aber er steht nunmal unreflektiert in der Zeitung und bedarf daher einer Gegendarstellung.

Im großen Interview mit Angela Merkel auf Seite 5 demonstriert die Bundeskanzlerin, dass sie zwar vielleicht einzelne Gesetze kennt, aber dafür die grundlegende Funktionsweise des Arbeitsmarktes nicht versteht. Ich zitiere die Dame:

Aber natürlich können wir nicht damit zufrieden sein, dass sich bei allen großen Fortschritten auf dem Arbeitsmarkt die Langzeitarbeitslosigkeit doch so hartnäckig hält, vor allem unter allein erziehenden Müttern und Menschen über 50 Jahren. Den Müttern werden wir helfen, indem wir die Kinderbetreuung weiter ausbauen.

Ich bin ganz klar für einen Ausbau der Kinderbetreuung, das ist ein sehr sinnvoller Schritt. Die Frage ist nur, was das mit den Chancen einer Langzeitarbeitslosen bei der Arbeitssuche zu tun hat. Denn wenn jemand schon sehr lange erfolglos arbeitssuchend ist, dann liegt das ja wohl daran, dass er oder sie einfach keine Arbeit gefunden hat. Externalitäten wie bessere Kinderbetreuung helfen dabei aber nicht: durch sie entstehen keine neuen Jobs, außer vielleicht Jobs in der Kinderbetreuung.

Ansonsten gilt nach wie vor der Kommentar über die Umverteilung von Arbeitslosigkeit bei gleichbleibender Arbeitslosenzahl, was ich schon einmal geschrieben habe.

So richtig los geht's natürlich im Wirtschaftsteil. Im Kommentar "Explosive Mischung" von Andreas Oldag auf Seite 17 steht zum Beispiel über Irland geschrieben:

Um das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen, schlug er einen harten Sparkurs ein. Einschnitte und Steuererhöhungen belaufen sich in diesem Jahr auf etwa fünf Prozent der Wirtschaftskraft des Landes. [...]
Nur: [der irische Finanzminister Brian] Lenihan muss mit zwei weiteren Faktoren kämpfen [...] Erstens kommt der erhoffte Konjunkturaufschwung nicht in Gang. Steuereinnahmen, auf die Dublin zur Reduzierung des Haushaltsdefizits dringend angewiesen ist, bleiben aus.

Woran könnte das wohl liegen? Eine Reduzierung der Netto-Staatsausgaben (also Ausgaben minus Steuern) wirkt sich nicht unbedingt 1:1 auf das BIP aus, da Multiplikatoren eine Rolle spielen können. Darüber quantitativ seriöse Aussagen zu treffen ist schwierig. Aber qualitativ ist völlig klar: Wenn die Netto-Staatsausgaben um 5% der gesamten Wirtschaftskraft zurückgehen, kann das an der Auftragslage der Wirtschaft nicht spurlos vorbeigehen - und dann kann man sich nur wundern, wenn sich jemand über ausbleibende Steuereinnahmen wundert.

(Okay, okay, die geplanten Sparmaßnahmen der Regierung wirken sich natürlich noch nicht auf die heutigen Steuereinnahmen aus. Aber die Zeichen stehen für Irland ganz eindeutig auf Abschwung, und die Regierung ist voll Stolz dabei, die Lage zu verschlimmern.)

Direkt daneben geht es um die geplante Erhöhung effektiver Ökosteuern in Deutschland ("878 000 Arbeitsplätze bedroht"), und auch da liest man dubioses:

Was Schäuble freut, macht [Hans-Peter] Keitel [Präsident des Bundesverbands Deutscher Industrie] große Sorgen: „Deutschland wäre das einzige Land, das seine Unternehmen in dieser Konjunkturphase belastet. Das darf nicht sein“, sagt er.

Erstens ist es natürlich Unfug, dass Deutschland das einzige Land ist, dass seine Unternehmen belastet - siehe meine Anmerkung zu Irland oben.

Zweitens ist es richtig, dass es in der jetzigen Situation verkehrt ist, die Wirtschaft unnötig zu belasten.

Aber drittens ist es richtig, dass sich die Politik nicht vom Präsidenten des BDI erpressen lassen darf. Schließlich ist er nur einer von ca. 60 Millionen Wahlberechtigten. Wenn die Mehrheit der Menschen und die Politik Anreize für nachhaltiges Wirtschaften schaffen wollen, dann dürfen sie sich davon nicht von einem einzelnen Betonkopf abhalten lassen.

Widersprechen sich die Punkte 2 und 3? Nein! Es ist das Schöne an Steuerpolitik (im Gegensatz zur Geldpolitik), dass man mit ihr gleichzeitig an einer Stelle kontrahieren und an anderer Stelle expandieren kann, um so die Wirtschaft zu steuern. Es wäre also möglich, einerseits durch die Ökosteuer unerwünschte Tätigkeiten zu belasten und so Anreize für umweltfreundlicheres Handeln zu schaffen, und gleichzeitig in anderen Bereichen Staatsausgaben zu erhöhen um der Wirtschaft aus der Krise herauszuhelfen und Arbeitsplätze langfristig zu sichern.

Umstellungsschmerzen gibt es dabei womöglich (weil Arbeitsplätze in einem Sektor verlorengehen und in einem anderen Sektor neu entstehen), aber wenn wir langfristig auf umweltfreundlicheres Wirtschaften umstellen wollen führt daran sowieso kein Weg vorbei.

Auf Seite 18 in der Rubrik "Forum" findet sich ein Artikel zweier Figuren vom Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln unter dem Titel "Grüne Beschaffung ist nicht immer grün". Der Artikel enthält diskutierenswerte Gedanken, die für meinen persönlichen Geschmack aber zu defätistisch sind - wie wäre es denn mit konkreten Verbesserungsvorschlägen statt reiner Kritik? - aber darum geht es hier nicht. Es geht um diesen Satz hier:

Desweiteren gilt es bei jeder staatlichen Aktivität zu berücksichtigen, dass Staatsausgaben der Gegenfinanzierung durch Staatseinnahmen bedürfen.

Für einen souveränen Staat gilt das nicht (siehe z.B. hier oder Warren Mosler's Buch). Natürlich ist Deutschland als Mitglied der Eurozone kein souveräner Staat, von daher ist die Aussage auf Deutschland bezogen richtig. Die langfristig sinnvollere Überlegung wäre aber, ob man nicht vielleicht die Konstruktionsfehler der Eurozone beheben sollte um den Spielraum für sinnvolle Politik zu vergrößern.

Auf Seite 20 findet sich schließlich ein Hoffnungsschimmer für die SPD im Artikel "Hartz IV entfacht Debatte über Mindestlöhne". Offenbar hat sich inzwischen bis zur SPD-Spitze herumgesprochen, dass der Niedriglohnsektor doch keine so gute Idee ist. Ein wirklich konsequentes Umdenken auch in Hinblick auf die Lehren der Modern Monetary Theory ist zwar bei Weitem nicht zu erkennen, aber hey, wir sind für jeden kleinen Schritt dankbar.

Abschließen möchte ich mit dem Hinweis auf den Artikel von Nicola Holzapfel auf der gleichen Seite (online finde ich im Moment nur eine Version des Artikels auf jetzt.de). Wer glaubt, Hartz IV-Bezieher wären doch arbeitsfaule Schmarotzer, der sollte sich diesen Artikel einmal zu Gemüte führen.

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